Das Wohl von Kindern liegt ihr am Herzen, gerade das von Kindern aus armen Familien: Dr. Waltraud Lorenz lehrte viele Jahre Psychologie und Pädagogik an der Caritas Fachakademie für Sozialpädagogik in Regensburg. Seit Ende Juli ist sie im Ruhestand.
Wer sich in den Räumen der Caritas Fachakademie für Sozialpädagogik in Regensburg nach Dr. Waltraud Lorenz erkundigt, erfährt, welchen Stellenwert sie bei Studierenden und Kollegen gleichermaßen hatte und noch hat. Dr. Lorenz ist eine Macherin, strukturiert und klar in ihren Vorstellungen. Ihr Ziel ist es, Kindern aus sozial schwächeren Familien eine Chance zu geben. Dafür hat sie die angehenden Erzieherinnen und Erzieher sensibilisiert.
Frau Dr. Lorenz, wie erkennt man ein armes Kind auf der Straße?
Ich denke, auf den ersten Blick würde man sich auf die Äußerlichkeiten beschränken. Dass ein Kind beispielsweise unangemessene Kleidung trägt – im Winter zu dünn, im Sommer zu dick. Das allein ist nur ein kleines Merkmal. Grundsätzlich würde man ein solches Kind auch am Verhalten erkennen: Wie ist die Sprache, kann es sich gewandt und eloquent ausdrücken? Gibt es Anreize aus der Umwelt, bei denen man bemerkt, die Kinder werden gefördert und haben einen guten Wortschatz? Haben sie ein gutes Sozialverhalten oder sind sie gehemmt, zurückhaltend, ängstlich? Schämen sie sich? Ab dem dritten Lebensjahr etwa entsteht bei einem Kind das Schamgefühl. So haben wir zunächst einmal den äußeren Blick und wenn wir Kontakt aufnehmen zu dem Kind, erkennen wir weitere Merkmale: Ängstlichkeit, Zurückhaltung, Sprachschwierigkeiten, mangelnder Wortschatz oder mangelnde Sprachvielfalt.
Was hat Sie dazu bewogen sich dem Thema Kinderarmut zu verschreiben?
Die Tatsache, dass ich in meinem Beruf als Dozentin für Psychologie hier an der Fachakademie selbst damit konfrontiert bin. Dass auch in meinem persönlichen Umfeld, bei Studierenden oder im Bekanntenkreis, Armutslagen sehr schnell und überraschend eintreten können – durch Erkrankung, Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust oder eben auch Hochwasser. Und da ist mir bewusst geworden, dass Armut jeden Menschen überraschen kann. Auch wenn man aus einem gut situierten Elternhaus, aus einem guten Bildungsmilieu kommt, kann eine Armutslage ganz überraschend eintreten. Ein zweiter Grund war, dass mir bewusst wurde, dass Erzieherinnen und Erzieher eine Schlüsselfunktion haben. Es gibt keine andere Berufsgruppe, die so viele Familien Tag für Tag sieht. Im Kindergarten, in der Kindertageseinrichtung werden täglich die Kinder gebracht und wieder abgeholt – somit haben Erzieher jeden Tag einen Blick auf die Familien. Etwa 90 bis 95 Prozent der Kinder im fünften Lebensjahr in Bayern besuchen eine Kindertageseinrichtung. Nie mehr wird danach so häufig eine Familie von einer Berufsgruppe gesehen.
Eine Kindertagesstätte ist ein Bildungsort und ein sozialer Ort, an dem emotionale Förderung stattfindet, ist. Das ist in einem System, in dem auch Eltern wenig vernetzt sind – so ist das häufig bei armen Familien – mit Vereinen, mit Bibliotheken und so weiter, unglaublich wichtig. Lernen passiert immer auch über die soziale Umwelt und Freundschaften. Das ist entwicklungspsychologisch ein ganz wichtiger Faktor. Unser Hirn ist schließlich ein Sozialorgan. Man hat festgestellt, dass Ausgrenzung, die eben auch durch Armut passiert, auch Auswirkungen auf unsere Gehirnentwicklung hat. Und zwar gravierend. Prof. Dr. Joachim Bauer (Deutscher Hirnforscher, Anm. d. R.) hat festgestellt, dass Ausgrenzung die gleichen Areale im Gehirn verschaltet, die mit körperlichem Schmerz einhergehen und die Folge daraus führt zu aggressivem Verhalten der Betroffenen. Deshalb dürfen wir Ausgrenzung nicht akzeptieren. Das ist gesamtgesellschaftlich wichtig, denn Personengruppen, die sich ausgegrenzt fühlen, gründen Parallelgesellschaften.
Was war für Sie der entscheidende Lerneffekt beim Thema Armut?
Nun, ich lebe in einer gut situierten Welt – habe ein gutes Einkommen und Wohlstand. Und dann gibt es da diesen gesellschaftlichen Unterschied: Es gibt Kinder, die in schwierigen Situationen aufwachsen. Diese Personenanzahl ist durchaus beträchtlich. Alleine in Bayern geht man von einer Kinderarmut von 13 bis 15 Prozent je nach Region aus. In der nordrheinwestfälischen Stadt Remscheid sind es beispielsweise 30 Prozent; im Bundesland Bremen sogar über 30 Prozent. Das hat mich wirklich bewegt. Mein persönlicher Lerneffekt war daraus, dass es der Gesellschaft niemals gelingen darf diese Menschen zu ignorieren und schlicht so zu tun, als gäbe es diese Personengruppe nicht. Ich möchte einfach den Blick nicht verlieren für Eltern und Kinder in Benachteiligung. Ein weiterer Lerneffekt war, dass es sehr wohl Unterschiede gibt bei dieser Personengruppe. Da sind zum einen Familien in armen Haushalten, die noch bereit sind etwas zu tun und zu verändern, wo die Resilienz noch sehr bedeutsam ist bzw. wirksam sein kann. Sie müssen wissen: Wenn eine Armutslage zu lange dauert und zur Resignation führt, spricht man von verwalteten Armen. Diese Gruppe hat viele Lebenskompetenzen verloren und kann aus eigener Kraft diese Armutslage nicht mehr verlassen. In diesen Haushalten gibt es kein Interesse mehr an der Entwicklung der Kinder. In diesen Familien herrschen monetäre Codes: Da geht es nur noch um Geld und nicht mehr darum, etwas gemeinschaftlich zu teilen. Wer als Erster den Joghurt im Kühlschrank findet, isst ihn – egal, ob er einem gehört oder nicht. Die Kommunikation in diesen Familien orientiert sich nicht mehr an den seelischen Grundbedürfnissen, sondern ist ausschließlich materiell geprägt. Diese Familien werden in aller Regel von der Behörde, also staatlich, versorgt. Wohingegen die zuerst erwähnten Familien noch selbst um die Versorgung der Familienmitglieder bemüht sind. Auch das Interesse an der Entwicklung der Kinder ist hier noch vorhanden.
In Deutschland sind etwa 2,5 Millionen Kinder von Armut betroffen. Die Bertelsmann-Stiftung spricht davon, jedes vierte bis fünfte Kind sei von Armut bedroht. Da erstaunt es doch sehr, wie lange Kinderarmut ignoriert wurde als gesellschaftliches Problem.
Der Blick auf die Entwicklung von Kindern hat sich in den letzten Jahren Gott sei Dank gewandelt, seit man den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen so stark in den Blickwinkel nimmt. Wenn man etwas in die Geschichte der Pädagogik blickt: Wann sind denn die Kindertageseinrichtungen überhaupt als Bildungseinrichtungen definiert worden? Noch vor einer Generation waren es Einrichtungen, in denen Kinder tagsüber gut aufgehoben waren. Nun hat man gerade in Kindertageseinrichtungen die Probleme und komplexen Nachteile von Kindern aus bildungsfernen Milieus erkannt. Die beginnen bei den Grundbedürfnissen, der Gesundheitsvorsorge und den Bildungschancen, die ein Kind hat. Durch den Bildungsauftrag, den die Einrichtungen inzwischen haben, sind diese Nachteile erst so richtig sichtbar geworden. Das hat gravierend dazu beigetragen, dass der Begriff Kinderarmut zu einer festen Größe wurde. Unsere Gesellschaft ist komplexer und vielfältiger geworden. Man hat Risikogruppen identifiziert: Menschen mit Migrationshintergrund, kinderreiche Familien, Ein-Eltern-Familien. Diese Erkenntnis geht, glaube ich, einher mit der Resilienzforschung. Denn auch diese Konzepte sind in den letzten zwanzig Jahren entstanden. Prof. Dr. Corina Wustmann war hier federführend für die Entwicklung dieser Konzepte. Sie hat festgestellt, dass es unter bestimmten Voraussetzungen gelingt, dass sich Kinder, die in widrigen und schwierigen Lebenskontexten aufwachsen, aus Armutslagen heraus entwickeln können.
Was können wir tun, damit Kinderarmut in unserer Gesellschaft als gravierendes Problem noch stärker wahrgenommen wird?
Was wirklich hilfreich ist, sind Kampagnen. Wir hatten vor zwei, drei Jahren speziell in Regensburg das Thema Wohnungslosigkeit im Mittelpunkt einer Kampagne. Da stand mitten auf der Straße ein Tisch auf einem Teppich unter dem Motto: Meine Wohnung ist auf der Straße. Man muss die Gesellschaft direkt mit dem Thema Armut konfrontieren; bei den Menschen Betroffenheit auslösen. Das sagt uns auch die Gehirnforschung. Betroffen machen von einer Situation, verändert etwas. Und ich glaube, dass das auch beim Thema Kinderarmut gelingen kann. Dass man diese komplexe Situation in Worte fasst und sie zeigt: die Menschen betroffen macht. Betroffenheit ist der erste Schritt zur Veränderung.
Der Erfolg ist allerdings oft nur kurzfristig.
Ja, das ist sicherlich oft kurzfristig. Es ist dann einfach wichtig, dass es nicht in den Hintergrund gerät. Im Falle der Armut heißt das: Wir müssen unsere Ressourcen und Einrichtungen nutzen, Pädagogen fortbilden und das Thema auf die Straße bringen, die Kinderarmut enttabuisieren. Kein Kind sagt: Ich bin arm! Denn es wird ansonsten ignoriert, nicht eingeladen oder ist weniger beliebt, weil es nicht so eloquent ist, also tabuisiert man es.
Ein Teufelskreis?
Ja, das kann man sagen. Ein Teufelskreis in Bezug auf die Lernstörung. Weil Kinder, die sich sprachlich schwerer tun – und das ist bei Armutslagen nachgewiesen – nicht so gerne in die Schule gehen, weniger motiviert und sprachlich nicht so eloquent sind. Das allein ist schon mal eine komplexe Ausgangslage, die deutlich negativer ist als bei Kindern, die gefördert werden. Wenn dieser soziale und pädagogische Teufelskreis dann mit dem Schuleintritt noch fortgesetzt wird, werden die Voraussetzungen für diese Kinder immer schwieriger, obwohl sie es von ihrer Intelligenz her ohne Weiteres schaffen würden.
Was sind die wichtigsten Maßnahmen für Erzieherinnen und Erzieher, wenn sie bei ihrer Arbeit den Fokus auf Kinderarmut legen möchten?
Zunächst einmal, dass eine Konzeption eine nahezu philosophische Überschrift hat: Bei uns hat jeder einen guten Platz! Bei uns ist jeder willkommen! Das muss auch gelebt werden. Damit signalisiert man den Kindern, dass jedes von ihnen einen guten Platz hat – die Akademikerfamilie genauso wie die Familie, die vom sozialökonomischen Status her eher geringer anzusiedeln ist. Die Schwierigkeit ist jetzt diesen Standpunkt zu integrieren. Bei den Kindern kann man das noch einigermaßen integrieren, dass wir in der pädagogischen Arbeit darauf achten, dass eben keine Ausgrenzung passiert; dass wir die Förderung allen Kindern zuteilwerden lassen; dass wir Empathie fördern; dass wir bei den Entwicklungsaufgaben helfen; sei es die Impulskontrolle, sei es das Teilen und andere Verhaltensweisen. Da haben wir schon viele Instrumente in der alltäglichen pädagogischen Arbeit. Schwieriger wird es sein die Eltern zu integrieren, gerade was auch ganz praktische, ja absolute Alltagssachen betrifft: dass man beispielsweise sammelt und verschenkt; dass das normal wird, dass man Gegenstände, Bücher und so weiter teilt oder dass es da eine Kiste gibt, aus der man sich einfach etwas rausnehmen darf; dass es also nichts Beschämendes ist, etwas von jemand anderes zu nehmen, sondern dass es etwas ganz Normales ist. Erzieher oder Erzieherin sollte sich in der täglichen Arbeit auf etwas vollkommen Normales besinnen: Gibt es einen Bäcker in der Umgebung, der uns einmal in der Woche etwas zum Essen schenkt? Können wir gesundes Essen etablieren, ohne dass es auffällt, dass ein einzelnes Kind das ansonsten nicht hätte. Es muss einfach völlig normal werden, dass wir füreinander da sind und uns umeinander sorgen. Um dieses Verhalten dann auch auf die Elternebene zu projizieren, muss man, glaube ich, einmal gesamtgesellschaftlich aussprechen trauen, dass das Leben in unserem Land zu viel Geld kostet: Wohnkosten oder Essen in einer guten Qualität zu kaufen sind zu teuer. Dass man der Gesellschaft aufzeigt, dass auch ganz normale, liebe und hilfsbereite Menschen dieses Geld nicht mehr zur Verfügung haben. Dass wir das auch kommunizieren. Dass das etwas ist, was sehr viele Menschen betrifft. Schulden zu haben ist vollkommen tabuisiert. Da gibt es sogar Beziehungen, in denen jeweils Schulden gemacht werden, ohne darüber zu sprechen. Trotz Tabuisierung sind Schulden gesellschaftsfähig geworden. Deshalb muss man hier deutlich ansprechen: Eigentlich ist normales Leben für ganz viele Menschen zu teuer. Doch Statussymbole wie der regelmäßige Urlaub braucht es, um dazuzugehören. Das Dazuzugehören ist etwas ganz Wichtiges und deshalb machen Menschen auch Schulden. Als Erzieherinnen und Erzieher bewerten wir nicht die einzelnen Lebenslagen. Jeder ist für seine Lebenslage selbst Fachmann bzw. Fachfrau. Das muss man auch würdigen. Wir dürfen uns da auch nicht einmischen. Die Würde eines Menschen darf ich nicht nehmen, indem ich sage, du machst das und das falsch, sondern die Würde ist sein Dasein: So wie du da bist, bist du wertvoll. Und das ist das Wichtige für uns, es auch in die Elternebene zu kommunizieren. Das muss auch die Haltung von Erzieherinnen und Erziehern sein, wie die Kommunikationspsychologie das zusammenfasst auf einen Satz: Alles muss ein Gesicht haben. Auch eine Einrichtung muss ein Gesicht haben, ein menschliches Gesicht.
Kinder bemerken manchmal Armut bei anderen Kindern. Wie können Eltern auf ihre Kinder einwirken sich angemessen gegenüber einem Kind in Armut zu verhalten?
Wir Menschen neigen dazu, uns dem anzuschließen, der uns ein Vorbild ist. Wir wollen dazugehören, zu dem oder der Stärkeren gehören. Das führt unweigerlich oft auch zur Ausgrenzung derer, die eben nicht so stark sind. Die Ausgrenzung werden wir nicht abschaffen können, weil es immer Menschen geben wird, die sich als etwas Besseres sehen. Es muss uns als Eltern gelingen bei den eigenen Kindern Mitgefühl und Betroffenheit zu erzeugen. Helfen und teilen muss ein Erziehungsthema in der Familie sein. Das Teilen, etwas hergeben oder spenden, eben soziale Verhaltensweisen müssen noch verbreiteter werden. Ohne Betroffenheit auszulösen, ist unser Gehirn gar nicht fähig, etwas zu verändern.
Was wünschen Sie sich abschließend von jeder und jedem Einzelnen von uns?
Man muss sich einfach wachhalten für die Vorgänge um einen herum. Und es geht auch darum, dass wir uns selbst reflektieren. Wenn wir Gemeinschaft schaffen, gibt es keine Ausgrenzung mehr. Je früher wir das bei den Kindern schaffen, desto nachhaltiger ist das für unsere gesamte Gesellschaft.