Sprache ist der Schlüssel zur Welt. Wie lässt sie sich fördern? Darüber spricht Dr. Nicole Ehrmann-Ludwig, Expertin für Deutsch als Zweitsprache und stellvertretende Schulleiterin an der Caritas-Fachakademie für Sozialpädagogik in Regensburg
Die Kompetenzen in Deutsch haben sich bei Grundschulkindern dramatisch verschlechtert – das zeigt der aktuelle IQB-Bildungstrend. Dabei ist Sprache der Schlüssel zu Bildung und Teilhabe. Wie lässt sie sich fördern?
Dr. Nicole Ehrmann-Ludwig: Es gibt verschiedene Bereiche der Sprachförderung: Da sind die Aussprache und das Hören, also der phonetische Bereich. Da ist der Wortschatz, die Lexik. Da ist die Grammatik, also die Frage, wie man einen Satz oder Wörter bildet. Und da ist die sogenannte Pragmatik, die konkrete Kommunikation im Kontext. Jeder einzelne dieser Bereiche lässt sich gezielt fördern.
In vielen Kindertageseinrichtungen herrscht Personalmangel. Ist es da nicht etwas viel verlangt, auch noch gezielt Sprache zu fördern?
Es gibt Methoden und Ansätze, die nicht viel Zeit kosten, sondern die sich relativ einfach in den Alltag integrieren lassen. Das beginnt mit der Raumgestaltung: Man kann zum Beispiel Möbel beschriften. Damit bahnt man Schrift im Alltag an und die Kinder werden auf ganz subtile Weise an Schrift herangeführt. Ein ganz wesentlicher Aspekt beim Sprachelernen und Fördern ist die Interaktion zwischen der Fachkraft und dem Kind: Fachkräfte können, je nachdem wie sie mit den Kindern sprechen, ganz viel anbahnen. Hilfreich ist es beispielsweise, wenn sie jede Handlung sprachlich begleiten oder auch offene statt geschlossene Fragen stellen und wenn sie sich einer Sprache bedienen, die die Kinder herausfordert.
Haben Sie hierfür Beispiele?
Mal angenommen, die Fachkraft liest das Buch „Der Bär ist krank“ vor, ein wunderbares Vorlesebuch für Kinder ab drei Jahren. Dann kann sie nach dem Vorlesen fragen: ‚Wie war das, als du mal krank warst?‘ und nicht ‚Warst du auch schonmal krank?‘. Das fordert die Kinder heraus, ausführlich zu antworten.
Im Unterricht zeige ich außerdem gern folgenden Filmausschnitt: Ein türkischsprachiger Junge erzählt vom Wochenende, ‚und dann war da ein Bach und das Wasser war voll kalt‘. Die Erzieherin entgegnet: ‚Echt, war das richtig eisig?‘ Damit hört sie ihm zu, verbessert ihn nicht, bietet ihm aber in der Antwort ein neues Adjektiv an. So bauen die Kinder schrittweise ihren Wortschatz aus. Eine andere Methode ist das sogenannte ‚korrektive Feedback‘: Wenn ein Kind beispielsweise sagt ‚Ich habe da meine Socke ausgezieht‘, dann lässt sich entgegnen: ‚Echt, du hast die Socke ausgezogen?‘. Es geht also nicht darum, auf Fehler hinzuweisen und die Kinder damit zu entmutigen, sondern darum, den Kindern richtiges Deutsch anzubieten und ihnen die Freude an der Sprache zu vermitteln.
Welche Rolle spielt das Lesen und Vorlesen beim Erlernen eine Sprache?
Das Vorlesen ist im Kindergartenalter und auch später in der Schule sehr wichtig. Vorlesen hat einen zentralen Stellenwert. Es ist gut, wenn das Vorlesen jeden Tag in den pädagogischen Alltag eingebunden ist. Denn in den Büchern steckt unglaublich reichhaltige Sprache. Nehmen wir als Beispiel das Kinderbuch ‚Die kleine Raupe Nimmersatt‘. Darin finden sich dann Sätze wie: ‚Sie machte sich auf den Weg, um Futter zu suchen.‘ Niemand würde so sprechen. Aber wenn die Kinder diese Schriftsprache mit ausgefeiltem Satzbau und umfangreichem Wortschatz hören, nehmen sie diese Strukturen der Sprache über das Hören auf. Das hat einen immensen Nutzen für das spätere Verwenden von Sprache und auch für das spätere Formulieren eigener Sätze. Kinderbücher sind Schätze für das Erlernen von Sprache.
Gruppen in Kindertageseinrichtungen oder auch Schulklassen sind heterogen. Studien zufolge liegt der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund bei etwa einem Drittel. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kinder dann untereinander in ihrer Herkunftssprache sprechen. Was bedeutet das für das Erlernen der deutschen Sprache?
Wir müssen Mehrsprachigkeit wertschätzen und als Chance sehen. Kinder bringen viele Ressourcen mit – und dazu zählen manchmal auch verschiedene Sprachen, die sie sprechen. Die Kinder bekommen in ihrer Alltagswelt so viel Deutsch mit, da macht es nichts, wenn sie auch mal in ihrer Herkunftssprache sprechen. Im Gegenteil: Kinder, die einen differenzierten Wortschatz und eine ausgefeilte Sprache aus ihrer Herkunftssprache gewohnt sind, übertragen diese Strukturen auch auf die deutsche Sprache. Es geht beim Sprachelernen nie um die Quantität, sondern immer um die Qualität. Wenn ich Eltern in der Beratung habe, rate ich: Sprechen Sie mit Ihren Kindern die Sprache, die Sie am besten können und mit der Sie Gefühle verbinden.
Wie lange dauert es, eine Sprache zu erlernen?
Der Spracherwerb ist nie abgeschlossen. In den ersten Lebensjahren sind Kinder unglaublich sensibel für lautliche Erfahrungen. Wenn sie beispielsweise erst in der Grundschule nach Deutschland kommen, werden sie einen Akzent behalten. Die Phonetik kann in diesem Alter nicht mehr aufgeholt werden. Aber was den Wortschatz und die Grammatik betrifft, können sie auf den Stand der anderen Kinder gebracht werden. Der Schlüssel dazu ist Lesen und die Kinder angemessen sprachlich herauszufordern.
Man unterscheidet in der Sprachförderung zwischen Alltags- und Bildungssprache. Innerhalb von sechs Monaten bis zu zwei Jahren lernen Kinder normalerweise, sich alltagssprachlich auszudrücken. Der Erwerb der Bildungssprache, dazu zählt beispielsweise ein differenzierter Wortschatz sowie der Gebrauch komplexer Sätze, dauert etwa fünf bis sieben Jahre. Es ist also gut, möglichst früh damit anzufangen – beispielsweise mit dem Vorlesen im Krippenalter.
Zur Person: Dr. Nicole Ehrmann-Ludwig ist stellvertretende Schulleiterin der Caritas Fachakademie für Sozialpädagogik in Regensburg. An der Fachakademie unterrichtet sie angehende Erzieherinnen und Erzieher im Fach Deutsch und legt dabei einen Schwerpunkt auf das Vermitteln und Fördern von Sprache. Ehrmann-Ludwig hat Germanistik studiert, an der Universität Regensburg am Lehrstuhl für Deutsch als Zweitsprache promoviert und dort fast zehn Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Sie hat gemeinsam mit dem Staatsinstitut für Frühpädagogik das Fortbildungskonzept für den „Vorkurs Deutsch 240“ entwickelt – ein Kurs für Kinder im Kindergartenalter, die im Deutschen besonders unterstützt werden müssen. Der Kurs richtet sich an Kinder mit Migrationshintergrund, aber auch an Kinder aus deutschsprachigen Familien mit Unterstützungsbedarf. Zudem hat Ehrmann-Ludwig an verschiedenen Kindertageseinrichtungen als Sprachberaterin gearbeitet.